Die Medien in Deutschland und Österreich berichten gerade über einen absurden Gerichtsstreit über das populäre Titellied zur Kinderserie „Pippi Langstrumpf“, die Ende der 1960er als schwedisch-deutsche Koproduktion entstand (siehe z.B. hier). Zum originalen Lied (Musik: Jan Johansson, Text: Astrid Lindgren) schrieb Wolfgang Franke 1969 einen deutschen Text, der aber keineswegs bloß eine Übersetzung des originalen schwedischen Texts war, sondern eine völlig eigenständige Dichtung. Hauptsächlich war der Text an einige Motive aus dem Kinderbuch bzw. aus der Serie angelehnt. Kläger im nunmehrigen Verfahren sind die Rechtsnachfolger der Kinderbuchautorin Astrid Lindgren, die ihre Ansprüche aber nicht – wie man vielleicht erwarten könnte – aus Lindgrens schwedischen Liedertext ableiten, sondern aus der Buchvorlage. Noch liegt kein Urteil vor, laut Medienberichten habe der zuständige Richter aber durchblicken lassen, dass er der Klage stattgeben werde: Auch wenn der deutsche Text nicht direkt aus dem Buch zitiere (in welchem Fall die Lage ja eindeutig wäre), greife er aber in den „Charakterschutz“ der Buchvorlage ein. Damit ist gemeint, dass sich der deutsche Text der Charakteristika der urheberrechtlich geschützten Hauptfigur Pippi Langstrumpf bediene, was unzulässig sei.
Was die Lindgren-Erben begehren, ist eine Beteiligung an den Tantiemen. Fraglich ist, ob diese heute überhaupt noch wirtschaftlich von Bedeutung sind, da die Erben (wenn überhaupt) ja nur Anspruch auf einen untergeordneten Anteil hätten.
Anzumerken ist, daß die deutsche und die dänische Liedfassung sich grundlegend unterscheiden. Das Original ist ein Calypso bzw. Samba (der außerdem erst im Abspann der Serie zu hören ist), die deutsche Fassung ist eher einem Volks- und Kinderlied ähnlich und außerdem um eine Einleitung und einen Mittelteil („Ich hab ein Pferd…“) ergänzt, die vom deutschen Komponisten Konrad Elfers stammt.*
Den Begriff des „Charakterschutzes“ kennt weder das deutsche noch das österreichische Urheberrechtsgesetz. Der Charakterschutz ist vielmehr ein Begriff aus der Rechtsprechung, die u.a. in Fragen eines TV-Sendeformats auch den Charakter von Figuren als grundsätzlich schutzfähig ansieht (u.a. Judikatur zu „Forsthaus Falkenau“). Ob dieser Gedanke bei „Pippi Langstrumpf“ überhaupt anzuwenden ist, ist aber zu bezweifeln: der Charakterschutz soll ja offenbar vor einem Plagiat schützen, z.B. soll niemand eine charakteristische Filmfigur für ein Konkurrenzprodukt abkupfern dürfen. Aber das ist hier auch gar nicht der Fall. Und selbst wenn hier die Frage des Charakterschutzes relevant wäre, hat Wolfgang Franke seinen Text ja offenbar mit Zustimmung von Lindgren bzw. mit Genehmigung des Originalverlages geschrieben.
Bis in die 1960-iger war es in Deutschland üblich, fremdsprachige Schlager mit neuem deutschem Text von heimischen Interpreten aufnehmen zu lassen (auch andere Länder nahmen „importierte“ Schlager in der Landessprache auf). Nicht nur Schlager, auch Titellieder und Musikeinlagen in Filmen wurden auf deutsch neu eingespielt („Probier’s mal mit Gemütlichkeit“ ersetzte „The Bare Necessities“ im Dschungelbuch). Dabei war praktisch nie eine Übersetzung des originalen Text, sondern regelmäßig eine am Stoff orientierte Nachdichtung zu hören. Ein Fall, daß bei solchen Titeln jemals Ansprüche aus dem „Charakterschutz“ abgeleitet worden wären, ist nicht bekannt.
Es ergeben sich noch weitere Fragen: Hat man sich die Verträge angesehen? In den Produktionsunterlagen und bei den beteiligten Musikverlagen finden sich regelmäßig noch die wichtigsten Verträge, und vielleicht geben diese Aufschluss über die damals gewollte Regelung der Urheberrechte; auch im Vertrag über die Verfilmungsrechte, der ja mit der Autorin oder dem Buchverlag abgeschlossen worden sein muss, könnten sich Hinweise finden, die zur Lösung der jetzigen Rechtsfrage nützlich sind. (Dazu ist zu bemerken, daß sich Produktions- und Verlagsverträge zur damaligen Zeit auf einige wenige Seiten beschränkten und dabei aber alle wesentlichen Punkte regelten; dem gegenüber sind solche Verträge heute überlang und kommen selbst dann noch nicht ohne zusätzliche „Allgemeine Vertragsbedingungen“ etc. aus.)
Letzte und wichtigste Fragen: Warum entdeckt man erst jetzt – 50 Jahre nach Produktion und Erstausstrahlung der Serie – daß die Autorin irgendwelche Ansprüche aus dem Liedtext haben könnte? Warum machte Astrid Lindgren solche Ansprüche nicht zeitlebens geltend? Und: sollte sie nach den GEMA-Verteilungsregeln als Autorin des Originaltextes nicht ohnehin an den Tantiemen aller nachfolgender Bearbeitungen beteiligt sein? Als Co-Autorin ist sie jedenfalls bei der GEMA angeführt. Im Falle einer bereits bestehenden Beteiligung aber würden die Erben praktisch eine doppelte Beteiligung verlangen.
Was sich die Lindgren-Erben von diesem Rechtsstreit also erhoffen, bleibt vorläufig völlig völlig schleierhaft, und so ist der anhängige Prozess nicht nur ein Streit um Pippi Langstrumpfs Zopf, sondern auch um des Kaisers Bart.
MS
Stand: Juni 2019.
*Nachsatz – Um die Rechtsfragen noch ganz besonders interessant zu machen: etliche weitere fremdsprachige Fassungen des Titelliedes (französisch, holländisch, englisch, hebräisch) bauen auf Konrad Elfers‘ deutscher Bearbeitung auf, wobei sich die Texte teils an Motive aus der Dichtung von Wolfgang Franke anlehnen. Die Vergleiche lassen sich – youtube macht’s möglich – binnen kurzem anstellen.